Am Abend des 19. März hat Heinz Schimmel, der Begründer und langjährige Leiter der Schule für Eurythmische Kunst Hannover, des Bühnenensembles und des MeRz Theaters, seinen Erdenweg abgeschlossen.
Wir trauern um einen großen Künstler, der unermüdlich Impulse für Neues gab, für die Eurythmie lebte und in vielfältiger Weise über Jahrzehnte diese wunderbare Bewegungskunst nicht nur in die Welt getragen, sondern immer wieder ihre Ausdrucksmöglichkeiten erweitert, neue Wege gefunden und Grenzen durchbrochen hat.
Noch während des zweiten Weltkriegs, am 23. März 1945, wurde Heinz Schimmel in Goslar geboren. Seine Mutter erhielt auf ihre Frage nach dem Kind die Antwort, es sei schon im Luftschutzkeller.
Heinz verbrachte eine glückliche Kindheit in ländlicher Umgebung und im Kreise einer großen Verwandtschaft. Früh begann er sich für Musik, Dichtung, Theater und Philosophie zu interessieren und wurde, wie er es selber in seiner Autobiographie geschrieben hat, ein Bewunderer und Verehrer bedeutender Künstler. Die Familie war inzwischen nach Hannover umgezogen und Heinz begann als Vierzehnjähriger, Klavierunterricht zu nehmen und besuchte viele Konzerte und Vorträge.
Der Besuch eines Konzertes der Pianistin Elly Ney im Jahre 1961 gab seinem Leben eine entscheidende Richtung, denn ab diesem Abend stand für ihn fest, dass er Künstler werden wollte.
Er besuchte Elly Neys Konzerte bis zu ihrem Tod im Jahr 1968 und verehrte die große Beethoven-Interpretin zeitlebens wegen ihrer künstlerischen Authentizität und menschlichen Größe.
Anlässlich einer Eurythmie-Aufführung im Theater am Aegi hatte er bereits eine deutliche Ahnung, dass diese Kunst, in der Musik und Dichtung in Bewegung umgesetzt werden, zu seinem Beruf werden sollte.
Durch seine Cousinen kam er mit der Waldorfschule in Berührung und setzte alles daran, ab der elften Klasse auf diese Schule gehen zu können; dies ging so weit, dass er einen Nebenjob annahm, um das Schulgeld aufbringen zu können. Hier erhielt er nun vielfältige Anregungen für seine künstlerischen Interessen, verbrachte meist die Nachmittage in der Schule, um mit Gleichgesinnten zu musizieren und lernte seine spätere Frau Angelika kennen.
Bald stellte sich heraus, dass ihn die Bewegungskunst Eurythmie stärker anzog als eine vorher angestrebte schauspielerische Laufbahn. So nahm er, nach geleistetem Zivildienst, 1969 das Studium bei Helene Reisinger an der Schule für Eurythmische Art und Kunst in Berlin auf. Er konnte ein Ausbildungsjahr überspringen und kehrte 1972 als Lehrer an die Waldorfschule in Hannover zurück.
Helene Reisinger hatte noch in dessen letzten Lebensjahren bei Rudolf Steiner und auch bei Marie Steiner gelernt und Anregungen mitbekommen, die nur durch sie übermittelt sind. Sie hat in besonders bodenständiger Weise die Eurythmie über den Zeitgeschmack des Jugendstils hinausgeführt und ihre Ausdrucksmöglichkeiten erweitert. Diese Ideale hat Heinz Schimmel in seinem Lebenswerk fortgeführt und wurde dafür von konservativeren Kolleginnen und Kollegen nicht wenig attackiert.
In der Zeit seiner Lehrtätigkeit an der Waldorfschule scharten sich engagierte Oberstufenschüler um Heinz Schimmel, die sogar frühmorgens vor dem regulären Unterricht an Arbeitsgemeinschaften teilnahmen und mit ihm zahlreiche Aufführungen, teilweise auch im Ausland, durchführten. Aus der Begeisterung der Schülerinnen und Schüler und deren Wunsch, mit Heinz weiter zu arbeiten, entstand 1978 der Impuls zur Gründung der Eurythmieschule, die bis heute besteht.
Durch die jahrzehntelange künstlerische Tätigkeit von Heinz Schimmel zieht sich als ein roter Faden das Bestreben, die Eurythmie in das öffentliche kulturelle Leben hineinzutragen und dabei stets auch neue Wege zu gehen. Die Verbindung mit dem Schauspiel und auch mit der Oper war ihm dabei besonders wichtig. So besuchte er den Schriftsteller Joachim Fernau in seinem Haus bei Florenz und inszenierte in Absprache mit dem Autor dessen Totentanz-Dichtung. In verschiedenen Szenen des „Parsifal“ von Richard Wagner entstand ein Gesamtkunstwerk aus Gesang und bewegtem Bühnenbild, das neue Ausblicke auf den spirituellen Hintergrund eröffnete.
In den Achtziger und frühen Neunziger Jahren war es noch möglich, große Theater zu füllen. In dieser Zeit gab es zahlreiche Tourneen durch Deutschland, die Schweiz, Österreich, Italien und Polen. Die Eurythmie-Aufführungen wurden vor oft vollen Häusern von Rom über München bis nach Posen begeistert aufgenommen. Durch den allgemeinen Rückgang des öffentlichen kulturellen Lebens wurde es dann aber nötig, neue Wege zu gehen und die Aufführungen mehr an einem Ort zu bündeln.
Der Hannoveraner Künstler Kurt Schwitters, der sich mit seiner MeRz-Kunst von den Dadaisten absetzen wollte, wurde zum Namensgeber für das 1997 gegründete MeRz Theater.
Mit dieser Gründung verbunden war auch die Einrichtung des kleinen Theaterraums in der Brehmstraße im Stadtteil Südstadt-Bult und damit ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt der Arbeit, nämlich die Inszenierung von Märchenaufführungen für Kinder.
Wer den Menschen Heinz Schimmel kannte, wusste auch von seiner großen Liebe zu Italien, die in vielerlei Hinsicht zu seinem Leben gehörte. Er verbrachte fast immer die Ferien dort und genoss es, in die südländische Atmosphäre einzutauchen, mit den Einheimischen ins Gespräch zu kommen, beim Cappuccino eine italienische Tageszeitung zu lesen oder auch in den Bergen zu wandern.
Generationen von Eurythmie-Studierenden erinnern sich an die Studienfahrten nach Florenz, bei denen er, am Bahnhof Santa Maria Novella angekommen, zu sagen pflegte: „Willkommen in der schönsten Stadt der Welt“. Hier wurde, wie schon in der Jugend, die Verehrung großer, vorangegangener Künstler wie Michelangelo, Raffael, Fra Angelico, Ghirlandaio, Masaccio und vieler anderer Quelle der Begeisterung für die eigene Arbeit, auch für die jungen Menschen, denen er in freilassend-betrachtender Weise die Kunst zum Erlebnis werden ließ.
Bei solchen Reisen war es unabdingbar, in einem bestimmten Café an einem bestimmten Platz eine heiße Schokolade zu trinken, auch wenn es ein Vermögen kostete.
Aus Italien ins MeRz Theater importiert wurde dann auch der Pinocchio, in Form einer eng an die italienische Vorlage angelehnten zweistündigen Inszenierung, die in über zehn Jahren wohl mehr als 50 mal aufgeführt wurde. Die Rolle des Holzbuben, der sich unermüdlich von einem Abenteuer ins andere stürzte, durch Höhen und Tiefen ging und sich dabei ständig verwandelte, war Heinz wie auf den Leib geschnitten. Man konnte den Eindruck haben, dass er, selbst hinter der Bühne auf seinen nächsten Einsatz wartend, eigentlich Pinocchio war.
In späteren Jahren führte ihn der Weg nach Umbrien, in die Gegend, wo Franz von Assisi gelebt hatte. Die Ausstrahlung des Ortes Assisi und die Giotto-Fresken berührten ihn außerordentlich. Hier schloss sich in gewisser Weise ein Kreis, hatte er doch mehr als zwanzig Jahre zuvor in Florenz, in der Rolle des Franz, vor einem Franziskus-Fresko von Taddeo Gaddi, das wunderbar tiefgründige Gedicht „Assisi“ von Celan aufgeführt, das mit den Worten beginnt. „Umbrische Nacht…“.
Mit Franz von Assisi hatte Heinz auch eine besondere, tiefe Liebe zum Bruder Tier gemeinsam.
An dieser Stelle sei ein bisher unveröffentlichtes Gedicht von Heinz Schimmel eingefügt:
Wer bist du
Giotto di Bondone
der du die Engel siehst
den Geist
sichtbar machst
den Christus mit dem Flügelgewand
aus Äther umhüllst
der du den Heiligen
mit den sich kreuzenden
Geiststrahlen berührst
die auch mich treffen
meine Augen füllen
Sozusagen im Rentenalter wandte Heinz sich nochmal in eine ganz andere Richtung, nämlich nach Ungarn. Es entstand ein reger Austausch und eine Freundschaft mit der Eurythmie-Schule in Budapest. Heinz lernte anfänglich Ungarisch und reiste gerne nach Budapest, um dort Kurse zu geben. In dem Zusammenhang beschäftigte er sich intensiv mit der Persönlichkeit und dem Schicksal der Elisabeth von Österreich-Ungarn, die ihn, abseits von allen Sissi-Klischees, in besonderer Weise faszinierte.
Im Sommer 2022 gab Heinz Schimmel die Leitung der Eurythmieschule in die Hände der jüngeren Generation. Ans Aufhören dachte er dabei keineswegs, er wollte nur kürzer treten, sich auf die Leitung der Bühne konzentrieren, Kurse für die Abschlussklasse geben und öfter mal nach Ungarn reisen. Bald danach musste er jedoch akzeptieren, dass ihm seine spät erkannte Krankheit einen Strich durch die Rechnung machte und er diese Pläne nicht mehr verwirklichen konnte.
Mit einer großen Geduld nahm der an sich ungeduldige Bewegungsmensch Heinz die Einschränkungen seiner Beweglichkeit an und lebte mit großer Zuversicht seinem Erdenabschied zu und mit der inneren Gewissheit, dass es danach weiter geht. Besonders freute ihn die viele Post von Weggefährten und Schülerinnen aus älterer und neuerer Zeit, die er in seinen letzten Lebenswochen erhielt. Wieder ließe sich ein Bogen spannen zu dem erdverbundenen Franz von Assisi, denn das bestimmende Motiv seiner letzten Tage war für Heinz die Liebe zur Welt.
Das MeRz -Team wird die Impulse von Heinz Schimmel weiter verwirklichen.
Finn Schimmel
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Heinz Schimmel: In Bewegung – Erinnerungen und Betrachtungen,
Flensburger Hefte Verlag, 22 €.
Der Verlag existiert nicht mehr, deshalb ist das Buch ausschließlich aus Lagerbeständen im MeRz Theater erhältlich.